Trotz alledem …

Es ist kaum Zeit zum Luftholen – so vieles passiert, das uns erschreckt, entgeistert und entmutigt. Wir erleben eine äußerst fragile Zeit, in der unsere Demokratie von vielen Richtungen her gefährdet ist, in der es wichtig ist, Großsprecher*innen und Dampfplauder*innen rechtzeitig zu erkennen und – vor allem – uns vor denen zu schützen, die ganz praktisch und perfide unsere Gesellschaft untergraben. Lange wurden die Zeichen nicht wahr- oder ernstgenommen, hielten wir alles für selbstverständlich – die Qualität „made in Germany“, unser wirtschaftliches und politisches System, unsere scheinbare „Überlegenheit“. Wenn wir jedoch nicht hart daran arbeiten, geht es schneller verloren, als wir reagieren können - und auf genau diesem Weg sind wir.

Wie rechtfertigt sich jetzt Kultur, insbesondere Musik, die mehr für sich selbst steht als Literatur, Theater oder Bildhauerei? Haben wir nicht Wichtigeres zu tun, als zu musizieren oder in Konzerte zu gehen? Müssen wir nicht ganz andere Dinge vorantreiben? War Kultur außerdem nicht immer wieder auch ein Instrument der Herrschenden, um das Volk mit „Brot und Spielen“ abzulenken und davon wegzubringen, genau hinzusehen und die eigenen Rechte bzw. notwendige Veränderungen einzufordern? Das gab es immer wieder – und die Gefahr ist durchaus da, dass die Kultur wieder zur banalen Ablenkung oder bloßen „Staffage“ für Herrschaftssysteme verkommt.

Aber gerade die Herrschaftssysteme bröckeln selbst – weltweit. Nichts scheint mehr sicher zu sein, nichts mehr reibungslos zu funktionieren. Je hoffnungsloser alles scheint, desto wichtiger wird es, Lieder zu singen, Musik zu machen und gemeinsam Kultur zu erleben. Es kommt darauf an, in welchem Geist die Spiele veranstaltet werden. Kultur und Musik befähigen uns, Abstand von den Dingen zu gewinnen, die uns bedrücken – und das, was uns unverständlich erscheint, neu zu begreifen, uns dazu zu positionieren und Konzepte gegen das Schlechte und Zerstörerische zu entwickeln.

 

Die Kulturkirche ist ein besonderer Raum. Mit unserem Programm haben wir große Freiheiten. Aus den oben genannten Gründen darf das nicht beliebig sein, sondern wir möchten immer wieder Akzente setzen für die, die im Recht sind, es aber nicht bekommen. An deren Seite stehen wir, denen gegenüber möchten wir solidarisch sein und für sie eintreten. Das ist etwas anderes als „Brot und Spiele“.

… es kommt dazu, trotz alledem,

dass rings der Mensch die Hand dem Menschen reicht,

trotz alledem!

 

Tim Günther, Musikdirektion